Lexikon der Tugenden: Ehrfurcht

Bild Lexikon der Tugenden2020 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.

Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“

Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.

 

Ehrfurcht

Die Ehrfurcht, ist vielleicht die unbeliebteste aller Tugenden. „Ehre“ hat heutzutage schon einen fragwürdigen Klang. Mit Ehrerbietung und Ehrenmälern kommt man noch weniger zurecht. Das klingt alles reichlich verstaubt und nicht mehr zeitgemäß. Und dann noch das Wort „Furcht“, das uns an gewisse Bibelstellen erinnert: „Schafft, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.“ (Phil 2, 12). Oder wie es in den Psalmen heißt: „Die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang.“ Aber wer will heutzutage mit dieser Furcht einflößenden Frömmigkeit noch etwas zu tun haben? Der Glaube in den Ländern des Wohlstands setzt ganz andere Akzente. Und doch hat diese Tugend nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil, es ist wichtig, dass wir sie uns wieder ins Gedächtnis rufen. Der jüdische Religionsphilosoph Abraham Heschel (1907-1992) hat einmal gesagt: „Ohne Ehrfurcht wird alles banal.“ Der Mensch verliert jede Achtung, jeden Respekt. Ich hörte kürzlich von einer Schulklasse, die in der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen schwätzend und lachend von einer Baracke zur anderen ging. Der Lehrer soll größte Mühe gehabt haben, die Klasse ruhig zu halten. Jeder weiß: an diesem Ort geziemt sich Anstand und Pietät, also Ehrfurcht - es gibt keinen treffenderen Begriff!

Heschel führt weiter aus, dass ohne die Ehrfurcht das Leben belanglos wird. Der Mensch verliert zum Beispiel die Fähigkeit, vor der Schönheit der Schöpfung einmal stehen zu bleiben und zu staunen. Dabei müssten wir das doch kennen, wenn wir ein neugeborenes Kind betrachten und dieses zarte Wesen mit vorsichtiger Scheu in die Arme nehmen. Erst die Ehrfurcht befähigt uns, das Geheimnisvolle, das Unaussprechliche überhaupt wahrzunehmen und zu bewundern. Romano Guardini (kath. Priester, 1885-1968) bringt noch einen anderen Gedanken ein: „In der Ehrfurcht verzichtet der Mensch auf das, was er sonst gerne tut, nämlich in Besitz nehmen und für die eigenen Zwecke zu gebrauchen.“ Das heißt: Ich entdecke die Würde des anderen Menschen, den Eigenwert des Kunstwerkes oder die Bedeutung eines ganz normalen Gegenstandes, ohne dass ich auch noch Besitz davon ergreifen muss. Und letztlich schützt uns die Ehrfurcht vor der Unachtsamkeit. Albert Schweitzer (ev. Theologe und Mediziner, 1875-1965) schreibt: „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben macht keinen Unterschied zwischen höherem und niederem, wertvollerem oder weniger wertvollerem Leben.“ Auch wenn ich im Garten natürlich zwischen Nutzpflanzen und wild wachsenden Pflanzen unterscheide, so werde ich doch behutsam und verantwortungsbewusst mit der Natur umgehen und nicht gedankenlos einfach ein Blatt abreißen. So ehrt die Ehrfurcht die Schöpfung und den Schöpfer. Denn im Religiösen bedeutet sie so etwas wie heilige Scheu und Ergriffenheit. Dabei muss man vor Gott keine Furcht haben, höchstens vor sich selbst, vor meinem gedankenlosen „o Gott“ und „ach Gott“ - Gerede oder davor, dass ich Gott einen guten, alten Mann sein lasse. Der glaubend Ehrfürchtige aber verspürt ein Sich-Hingezogen-Fühlen nach dem Ganz-Anderen, dem Unaussprechlichen und Geheimnisvollen, dem Heiligen, eben das, was Gott ausmacht, und was wir sooft vergessen. Was sagte Jakob, als ihm nachts im Traum Gott erschienen ist? (Gen 28, 16f): „Wahrhaftig, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.“ Er war ganz erschrocken und sagte: „Man muss sich dieser Stätte in Ehrfurcht nähern …“

Gundolf Lauktien