Lexikon der Tugenden: Freundlichkeit
2020 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.
Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“
Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.
Freundlichkeit
Die Freundlichkeit ist mehr als nur höfliches Benehmen, auch wenn dieses heutzutage mehr und mehr vermisst wird. Manchmal muss man sich wirklich fragen, wo ist das kultivierte Auftreten, das einst zum guten Ton gehörte, bloß geblieben? Über diese Tugend wird sich sogar abfällig geäußert, mit „herumschleimen“ oder als „scheißfreundlich“ bezeichnet. Selbst das sprichwörtliche „Kaufmannslächeln“ ist zur Ausnahme geworden. Man merkt es daran, dass einem eine freundliche Bedienung auffällt. Aber diese Tugend beinhaltet weit mehr. Der freundliche Mensch hat etwas Entgegenkommendes, er nimmt sein Gegenüber bewusst wahr und schenkt ihm seine volle Aufmerksamkeit. Allein diese Form der Zuwendung wirkt angenehm. Ist sie doch Ausdruck von Wertschätzung. Sie signalisiert: „Ich habe Interesse an dir; was du mir zu erzählen hast, ist mir wichtig.“ Da wird nicht am Handy gespielt oder nebenbei noch etwas anderes erledigt. Der Ton und die Wortwahl sind höflich bis liebenswürdig. Das Lächeln ist nicht aufgesetzt, sondern echt. Und gibt es etwas Kritisches zu sagen, so verfügt der freundliche Mensch über so viel Taktgefühl, dass sein Gegenüber die Worte gut hören und dankbar annehmen kann.
Nun ist allerdings zu bedenken, dass diese Tugend bei mir selbst, in meinem Inneren ihren Anfang nehmen muss. Wie freundlich gehe ich eigentlich mit mir selber um? Wie groß oder klein ist mein Selbstwertgefühl? Manche leiden ja an sich selbst, sind unzufrieden mit ihrem Aussehen oder mit dem eigenem Unvermögen. Manchen steht die Enttäuschung, die eigene Verachtung geradezu ins Gesicht geschrieben. So ist es nicht verwunderlich, dass sie sich anderen gegenüber mürrisch oder gar verächtlich geben. Die eigenen Verletzungen sollen andere auch zu spüren bekommen mit schlechter Laune, Ignoranz oder bissigen Bemerkungen. Der andere soll auch verletzt werden. Mit Freundlichkeit können diese Menschen nichts anfangen. Eigentlich sind sie zu bedauern. Spätestens hier wird der hohe Stellenwert dieser Tugend deutlich. Nicht umsonst ist sie eine „Frucht des Heiligen Geistes“, neben Liebe, Freude, Friede, Geduld, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit (Galater 5, 22). Wir merken, wie die Früchte des Geistes in einer inhaltlichen Beziehung zueinander stehen. Ein freundlicher Mensch kann nicht gleichzeitig lieblos, hartherzig und poltrig sein. Das passt einfach nicht zusammen. Wie wohltuend ist dagegen ein warmherziges Lächeln, ein wohlwollender Blick, eine entgegenkommende Geste, ein freundliches Wort (Sprüche 12, 25). Diese Tugend, diese „Frucht des Heiligen Geistes“ hat etwas Ansteckendes, Gewinnendes; genau das, was wir in dieser rauen, unterkühlten Zeit brauchen.
Gundolf Lauktien