Lexikon der Tugenden: Gastfreundschaft
2020 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.
Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“
Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.
Gastfreundschaft
Gastfreundschaft hat in allen Kulturen, in allen Religionen einen hohen Stellenwert. Im Altertum galt diese Tugend sogar als eine Pflicht, um Menschenleben zu retten, z. B. bei herumziehenden Nomaden, wenn diesen die Wasser- oder Nahrungsmittelvorräte ausgegangen waren. Im alten Israel wurde immer wieder an die Zeit der Versklavung in Ägypten erinnert. Da das Volk aber nun in der Freiheit lebte, galt umso mehr folgendes Gebot: „Der Fremde soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremde gewesen in Ägypten.“ (3. Mose 19, 34). Das ist die historisch-soziale Begründung für Gastfreundschaft. Die geistliche Begründung wird in der Geschichte von Abraham und Sarah verdeutlicht. Da kommen unerwartet drei Fremde zu den beiden und sie werden wie selbstverständlich aufgenommen und bewirtet. Und zur Gastfreundschaft gehört auch Zeit, viel Zeit für einander. (1. Mose 18, 1-8) Seitdem gilt die Auffassung, dass mit jedem Gast Gott selbst zu Besuch kommt. So ist es bis heute bei frommen Juden Brauch, dass bei großen Feierlichkeiten immer ein zusätzliches Gedeck für einen unerwarteten Gast, vielleicht sogar für den Messias, bereitsteht. Im Christentum fand dies mit der Erwartung auf den wiederkommenden Herrn seine Fortsetzung, was aber heutzutage kaum noch praktiziert wird. Und doch gilt der neutestamentliche Anspruch: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebräer 13, 2) Und Jesus sagt in dem Gleichnis vom Weltgericht: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen…Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 35+40)
Hier wird auf den ursprünglichen, auf den hohen Anspruch dieser Tugend hingewiesen: es geht zuerst um den Fremden! Aber wir Heutigen haben bei der chronischen Terminnot ja schon Mühe, überhaupt Zeit für unsere Bekannten, Verwandten und Freunde zu finden, geschweige denn für Fremde. Nichts Neues, denn auch Petrus musste schon damals die Gläubigen ermahnen: „Seid gastfrei ohne Murren!“ (1. Petrus 4, 9) Kein Zweifel, diese alte Tugend hat nichts an Aktualität eingebüßt. Und so sei in diesem Zusammenhang auf die tiefsinnige Geschichte von Leo Tolstoi vom Schuster Martin hingewiesen. Denn die Gastfreundschaft ist ein Geschenk Gottes und sie ist Auftrag zugleich. Der katholische Theologe Romano Guardini hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Das ist der Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass einer dem anderen Rast gebe auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“
Gundolf Lauktien