Lexikon der Tugenden: Gerechtigkeit
2020 und 2021 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.
Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“
Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.
Gerechtigkeit
Die Gerechtigkeit gehört zu den vier antiken Kardinaltugenden, die in der Regel zuerst mit dem Juristischen in Verbindung gebracht wird. Vor vielen Gerichtsgebäuden steht die „Justitia“ mit dem Schwert in der einen Hand als Symbol für Urteil und Strafe, in der anderen die Waage, und dann die verbundenen Augen: Bei Abwägen aller Umstände wird ohne Ansehen der Person Recht gesprochen. Auch wenn es viele Teilbereiche gibt, z.B. die Generationen-, die Umwelt-Gerechtigkeit und natürlich die Gleichberechtigung, so muss doch fest-gehalten werden, es gibt gerade im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich keine absolute Gerechtigkeit. Und doch wohnen das Empfinden und der Wunsch danach tief in uns; besonders bei Kindern: Wehe, es bekommt jemand das größere Stück; wehe, es wird eins der Geschwister vorgezogen, dann begehren sie auf.
Erst recht in der Schule: Was können Zensuren ungerecht sein! Wir Erwachsenen sind da abgeklärter. Zum einen, weil uns im Leben schon oft Unrecht widerfahren ist, zum anderen, weil auch uns trotz aller guten Vorsätze Ungerechtigkeiten unterlaufen und nicht zuletzt, weil wir täglich mitbekommen, wie es in dieser Welt zugeht. Unrecht bringt uns nicht mehr aus der Ruhe. Sollte es aber, denn die Frage nach Recht und Unrecht spielt in der Bibel eine große Rolle, zieht sich wie ein roter Faden durch die Heilige Schrift: Jona z.B. empört sich darüber, weil Gott bei den Einwohnern von Ninive Gnade vor Recht ergehen lässt; Amos prangert die soziale Schere von Arm und Reich an; und in der Bergpredigt Jesu steht der denkwürdige Satz: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere hinzugetan werden.“ Hier geht es nicht um den Himmel, dass es dort gerecht zugeht. Dafür wird Gott schon sorgen, das ist nicht unsere Sache. Sondern es geht um das Reich Gottes hier auf Erden und um Gottes Maßstäbe von Gerechtigkeit, um das, was uns Jesus vorgelebt hat, als er auf Ausgestoßene, Benachteiligte, Ungeliebte, Kranke, Notleidende und Gemiedene zuging.
Um diese Menschen geht’s. Dietrich Bonhoeffer hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Das heißt: Gerechtigkeit ist eine durch und durch normative Tugend, sie hat mit Sollen, Verantwortung und mit der Pflicht zum Handeln zu tun, nämlich sich für gerechte Verhältnisse einzusetzen. Das ist der hohe Anspruch der christlichen Botschaft. Die Ereignisse weltweit, in unserer Stadt oder direkt vor unserer Haustür bleiben eine immerwährende Herausforderung, persönlich, aber auch als Gemeinde. Nicht wegschauen, nicht gleichgültig werden und angesichts des vielen Unrechts schon gar nicht resignieren, sondern Jesu Worte beherzigen:
„Selig, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.“
Gundolf Lauktien