Lexikon der Tugenden: Wahrhaftigkeit

Bild Lexikon der Tugenden2020 und 2021 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.

Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“

Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.

Wahrhaftigkeit

Die Wahrhaftigkeit ist vielleicht die schwierigste von allen Tugenden. Zum einen ist sie schwer erlernbar, was bei anderen Tugenden, wie bei der Pünktlichkeit, ja möglich ist. Zum anderen ist sie umstritten, weil manche Ausdrucksformen von Wahrhaftigkeit durchaus zu hinterfragen sind. Aber der Reihe nach: Die veracitas meint zuerst den inneren Menschen, inwieweit er ehrlich und aufrichtig sich selbst gegenüber ist. Viele Menschen verstehen es ja, sich etwas vorzumachen, unbequeme Wahrheiten einfach auszublenden oder eigene Fehler zu ignorieren. Andere spielen eine Rolle, die sie gar nicht spielen wollen. Aber sie meinen, es anderen recht machen zu müssen. Sie verbiegen sich innerlich, sind nicht echt, im schlimmsten Fall heucheln sie sogar. Aber der wahrhaftige Mensch lebt im Einklang mit sich selbst. Das, was er denkt und fühlt, das, was er für richtig hält, lebt und zeigt er auch. Er verstellt sich nicht. Daher hat für Albert Schweitzer Wahrhaftigkeit viel mit Treue zu tun. Man bleibt seiner Gesinnung, seinem eigenen Gewissen gegenüber treu.

Das ist erst einmal richtig und gut, kann aber zu Konflikten führen. Wenn mir z. B. eine Feier nicht gefällt, könnte ich meinem inneren Impuls folgen und einfach gehen. Gleichzeitig weiß ich aber, dass ich den Gastgeber damit gehörig vor den Kopf stoßen würde, also bleibe ich…

Noch schwieriger ist der Umgang mit der sogenannten „ehrlichen Lüge“. Es gibt Situationen, wo z. B. der Arzt befürchtet, dass der Patient in seiner augenblicklichen Verfassung die klaren Fakten der Laborbefunde nicht verkraften würde, also redet er drum herum oder „lügt“, aber nicht zum eigenen Vorteil, sondern weil ihm das Wohl des Patienten am Herzen liegt. Er könnte sich ja auch nach Kants „Vernunftsgebot“ strikt an die „Pflicht zur unbedingten Wahrheit“ halten.

Den Gebrauch der „ehrlichen Lüge“ kennen wir irgendwie alle: Da überreicht uns ein lieber Mensch ein Geschenk, das meinem Geschmack nun gar nicht entspricht, aber ich will ihn nicht enttäuschen und spiele freudige Überraschung vor. Es gibt tatsächlich den feinen Unterschied zwischen „die Unwahrheit sagen“, um des eigenen Vorteils willen, und der „ehrlichen Lüge“, die das Wohl des anderen im Blick hat – und doch bleibt dieses gut gemeinte Verhalten umstritten und je nach Situation immer wieder diskussionswürdig.

Jesus sagte über Nathanael: „Wahrhaftig ein Israelit, in dem kein Trug ist.“(Joh 1, 27) Wahrhaftige Menschen sagen mitunter spontan, was sie denken, so wie Nathanael. Das ist nicht immer angenehm, hängt allerdings auch davon ab, wie höflich und kultiviert diese Meinungsäußerungen erfolgen. Aber andererseits weiß man bei ihnen sehr gut, woran man ist und lernt ihre Aufrichtigkeit und ehrliches Wesen zu schätzen.

Gundolf Lauktien